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Umgang mit aggressiven Verhalten

Ihr habt euch das Thema „Umgang mit aggressiven Verhalten“ gewünscht.
Dieses Thema ist sehr komplex und um über Lösungen zu sprechen, müssen wir dieses Verhalten zunächst verstehen.
Viele von uns haben im Alltag mit unseren neurodivergenten Kindern mit aggressiven Verhalten bis hin zu massiven Eskalationen zu tun und suchen nach Möglichkeiten für einen guten Umgang damit.
Im ersten Beitrag schauen wir uns das Verhalten genauer an und auch die Phasen, die zu einer Eskalation mit darauf resultierenden aggressiven Verhalten führen.

Dazu nutze ich das 9-Phasen-Modell von Nau und Aud.

 

Wie entstehen Aggressionen?
Die meisten Menschen reagieren bei einer Bedrohung tendenziell mit Flucht. Im Alltag kommen wir aber immer wieder in Situationen, in denen Flucht nicht möglich ist. Dann reagieren wir entweder mit Freeze, „erstarren“, oder mit Kampf. Kampf äußerst sich zunächst größtenteils in verbalen Aggressionen wie Drohungen oder Beschimpfungen, dann aber in physischer Gewalt.
Diese Reaktion ist eine Panikreaktion und wird von dem Teil des Gehirns gesteuert, der kein logisches Denken mehr zulässt. Der Mensch befindet sich dann in einem absoluten Ausnahmezustand, in dem sein Körper ihm suggeriert, dass Kampf die einzige lebensrettende Maßnahme in diesem Moment ist.
Dieser Prozess hat einen physiologischen Ablauf und wird durch wahrgenommene Bedrohung ausgelöst.

Wozu dienen Aggressionen bzw. der Kampfinstinkt?
Das Überleben des Menschen soll sichergestellt werden. Stresshormone erzeugen Energie und die Fähigkeit um den Flucht- bzw. Kampfinstinkt zu starten. Es ist also ein instinktiver Prozess, der hier abläuft. Der Grund für den Beginn dieses Ablaufs ist in der heutigen Zeit meistens keine eindeutige physische Bedrohung wie ein Angriff eines Wolfes etc., sondern ist oft viel subtiler und nicht auf den ersten Blick zu erkennen.

Was sind die Konsequenzen, wenn ein Mensch im Kampfmodus ist?
Der Mensch ist nicht mehr in der Lage, rational zu denken oder zu handeln. Er kann nicht mehr differenziert erörtern und ist auch oft nicht mehr in der Lage, Lösungen zu finden. Er hat in diesem Moment einen Tunnelblick und sieht nichts anderes als die Bedrohung. Das ist bei einer physischen Bedrohung von Vorteil, führt in einer Konfliktsituation im Alltag aber zu Schwierigkeiten. Wir können von dem Menschen in diesem Modus auch nicht mehr den echten Grund für seine Aggressionen erfahren. Es ist nur noch kurze und klare Kommunikation möglich.

Physiologischer Prozess von Aggression

Bedrohung wird erkannt
Adrenalin wird ausgeschüttet
Glucose wird freigesetzt = Energie
Atmung wird gesteigert
Herzschlag wird schneller und kräftiger
Muskeltonus steigt
Pupillen erweitern sich
Fähigkeit zur differenzierten Problemlösung und Abwägung sinkt

 

Eskalationsmodell nach Nau & Aud

 

0X Relativ normale Phase.

Normalverhalten
Verhalten, was eine Person unter normalen Erregungszustand zeigt
je genauer dieses Verhalten bekannt ist, desto besser werden schon kleinste Abweichungen bemerkt

Phase 1 Auslösephase

Die Anspannung steigt
Das. Kind ist sie häufig selber noch nicht bewusst darüber
Eine gemeinsame verbale Lösungsfindung ist noch möglich
Findung der Ursache ist eventuell noch gemeinsam möglich

Phase 2 Erste Übergangsphase

Das Kind fängt an seine Anspannung und Erregung selber wahrzunehmen
Kind zieht sich zunehmend zurück oder handelt
Das Kind fühlt sich immer mehr bedroht oder provoziert
Hier besteht noch Spielraum für ein Gespräch

Phase 3 Krisenphase

körperlich drohendes, destruktiv feindselig aggressives Verhalten
Kind ist für Argumente nicht mehr zugänglich
zugrundeliegenden Gefühl ist nicht mehr erkennbar

Phase 4. Destruktive Phase

Das Kind hat jegliche Selbstkontrolle verloren
Körperkontakt führt zu Angriff
physische Aggressionen/Angriff
Kind nimmt nur noch starke verbale Reize wie „sehr lautes sprechen/schreien“ wahr, eine Reaktion darauf ist aber fraglich

Phase 5 Wiederherstellungs‐ oder Abkühlungsphase

Nachlassen der Anspannung
Gefahr für weitere Eskalation besteht hier noch
aggressives Verhalten klingt noch nach
auslösende Gefühle sind noch vorhanden

Phase 6 zweite Übergangsphase

Kind ist wieder zugänglicher für Gespräche
Anspannung ist immer noch erhöht
Nach-/Wieder- erleben der Emotionen

Klare Ansprache in kurzen und verständlichen Sätzen

Phase 7 Auflösephase
Die Anspannung ist nun abgebaut
Kind erlebt eventuell Schuld, Scham
Kind kann in eine depressive Stimmung fallen
Nachbesprechungen sind jetzt möglich, können bei neurodivergenten Kindern aber besser noch später geführt werden, da sie körperlich oft sehr erschöpft sind.

Phase 0X +1 Normalphase

Normales Verhalten des Kindes ist wiederhergestellt
Das Kind könnte durch die Erfahrungen andere Situationen später anders bewerten und wahrnehmen als vorher. Deeskalationsmethoden

 

Deeskalationsstufen

In der Deeskalation geht es in erster Linie darum, Konfliktpotenzial zu kennen und erste Stufen der Eskalation zu erkennen. Das letzte Mal haben wir uns die Stufen der Eskalation genau angeschaut. Nun schauen wir uns an, wie wir Eskalationen verhindern können, oder mit ihnen umgehen. Hierzu gibt es 7 Stufen, die wir jetzt alle gemeinsam miteinander durchgehen.
Ich empfinde dieses Wissen als absolut notwendig und ein Muss für Eltern, Fachleute und sonstige Bezugspersonen. Wenn wir verstehen, wieso es zu Eskalationen kommt, können wir schon im Vorfeld so viel verhindern.
Und nicht nur das, wir können Eskalationen auch wesentlich schneller in den Griff bekommen. Es macht absolut Sinn bei Kindern, die zu aggressiven Verhalten tendieren, einen guten Früherkennuns- und Handlungsplan zu machen.
Wenn es euch schwerfällt Zusammenhänge zwischen Verhalten und Eskalation zu finden, oder alternative Handlungsstrategien zu entwickeln, kann es helfen sich an dieser Stelle professionelle Hilfe zu suchen.

Stufe 1 Verminderung der aggressionsauslösenden Reize
Diese können bei jedem Menschen anders sein. Ein paar davon möchte ich aber anschließend aufzählen. Jeder Mensch hat nur ein bestimmtes Maß an Impulskontrolle, wenn dieses aufgebraucht ist, eskaliert auch der geduldsamste Mensch. Viele neurodivergente Menschen haben Schwierigkeiten mit ihrer Impulskontrolle und geraten schneller in sehr emotionale Zustände, Ungeduld und am Ende auch in Aggressionen. Das liegt aber nicht daran, dass sie aggressiver sind als andere, sondern daran, dass sie in unserer Gesellschaft viel schneller an ihre Grenzen kommen. Sie geraten viel schneller in den Fight-, Flight- oder Freeze-Modus.
Indem wir achtsam sind und schon im Vorfeld stressigen Auffindung machen, können wir manche Situation schon vorher verhindern. In anderen Fällen ist dies nicht möglich. Was ein absolut wichtiger Punkt ist, ist, dass unsere Kinder uns als Ruhepol brauchen. Wenn wir gestresst ode gereizt sind, wird sich dies unmittelbar auf unsere Kinder übertragen. Ich weiß, dass die leicht gesagt ist und dass niemand immer reguliert sein kann und doch ist dies ein Fakt, der nicht außer Acht gelassen werden darf.

Mögliche Faktoren:
Hunger
‚Autonomieverlust
zu viel Kooperation
vielen oder starken Reizen ausgesetzt sein
Stimmung der Bezugsperson
Stimmung im Raum ist anmgespannt
Hitze, Kälte, schlechte Gerüche, schlechte Luft
zu langer Bedürfnisaufschub
Müdigkeit
Lange Betreuungs/Arbeitszeiten

2. Früherkennung
Es ist wichtig, unsere Kinder/Angehörigen genau zu kennen. Wenn wir wissen, wann sie dazu neigen aggressiv zu werden, dann haben wir einen Anhaltspunkt, wann wir besonders achtsam seinen müssen. Irgendwann kennen wir ihre Stressoren und auch wenn wir sie dann gerade nicht verhindern könne, können wir erkennen, wie sie in diesem Moment darauf reagieren und wie unser weiteres Handeln sein kann.
Anzeichen können zum Beispiel starkes Stimming, Rückzug, hoher Redefluss, motorische Unruhe, angespannter Gesichtsausdruck oder knappe Antworten sein.

3. Verbale Deeskalation
Das wichtigste hier ist: Lieber Nachgeben als eine Eskalation zu riskieren.
Pädagogische Grundsätze und der Wunsch, sich durchzusetzen, kann man an diesem Punkt getrost beiseitelegen. Hier geht es nur darum, eine Eskalation zu verhindern.
Dazu ist es unbedingt notwendig, sein eigenes Verhalten zu analysieren und zu reflektieren. Ist das Verhalten, was ich gerade zeige zuträglich oder mache ich es damit nur schlimmer? Ein guter Indikator ist auch immer zu schauen, was das Verhalten des anderen in mir selber auslöst.
Einer der schwersten Punkte, gerade für Eltern ist es, die Aggressionen und Beschimpfungen des Kindes nicht persönlich zu nehmen. Das ist nicht einfach, aber zwingend notwendig um ruhig zu handeln. Dinge, die in einer solchen Situation gesagt oder getan werden, sind meist nicht die Realität des Anderen.
Es ist ebenfalls sehr wichtig auf die eigene Gestik, Mimik und Stimme zu achten. Es sollte unbedingt vermieden werden, aggressiv oder feindselig auf das Kind zu wirken. Auch sollte eine angemessene körperliche Distanz gewährt werden, solange dies möglich ist und den anderen nicht gefährdet.

Je nach Eskalationsstufe können dann Dinge gesagt werden, um dem anderen das Gefühl zu geben verstanden und gesehen zu werden. Keine Vorwürfe, unnötige Anweisungen oder Bewertungen. Es macht bei vielen Menschen Sinn, die Gefühle zu spiegeln und zu fragen, wie wir ihm helfen können.
Allerdings muss dabei beachtet werden, dass neurodivergente Menschen darauf nicht immer eine Antwort kennen. Wir können der Person aber trotzdem das Gefühl geben für ihn da zu sein, ihn zu verstehen, ihn nicht zu verurteilen und sofort da zu sein, wenn er Hilfe benötigt.
Dem anderen anbieten auf Kissen, Boxsäcke oder andere Gegenstände einzuschlagen ist nur bedingt ratsam. So gibt man ihm zwar die Möglichkeit seine Wut heraus zu lassen, aber nicht die Möglichkeit Strategien zu entwickeln, um aus ihr heraus zu kommen.

4. Sicherheit herstellen
Sicherheit zuerst! Bei einer Eskalation ist es ratsam, erst alle Personen in Sicherheit zu bringen. Geschwister oder andere Kinder und Erwachsene aus dem Raum. Haustiere aus der Reichweite und alles was nach eigener Meinung besonders schützenswert oder gefährlich ist.
Wenn Mobiliar oder Gegenstände kaputtgehen ist das ärgerlich, aber lieber das, als eine körperliche Auseinandersetzung zu riskieren. Bitte bedenkt, dass Kinder auch älter werden und ihr ein 16-jähriges Kind vielleicht schon nicht mehr körperlich überlegen sein könntet.
Es ist ebenfalls ratsam eure eigenen Empfindungen zur Situation ohne dabei Vorwürfe zu machen mitteilt. Meistens ist dem Menschen gar nicht mehr bewusst, wie sich das Gegenüber fühlt.

5. Cool down
Wie im letzten Beitrag erklärt, ist es in dieser Phase wichtig im Blick zu behalten, dass hier jederzeit eine neue Eskalation möglich ist. Die Anspannung ist immer noch hoch und der Zustand instabil. Es ist ratsam in diesem Zustand noch sehr aufmerksam zu sein und auch klärende Gespräche oder Bemerkungen zur Situation zu unterlassen. Die Umgebung hierfür sollte reizarm und geschützt sein. Dieser Zustand dauert etwa 1,5 Stunden.

6. Nachbetreuung
Diese Phase ist besonders wichtig für die Beziehung zwischen euch und euren Kindern/Angehörigen. Wie wir im letzten Beitrag gelernt haben, wird diese Phase auch als Depression beschrieben. Hier geht die Kurve unter Normalzustand und der Mensch ist sehr labil. Empfindet vielleicht Trauer und Scham über sein Verhalten und braucht das Gefühl akzeptiert zu werden. An dieser Stelle ist es wichtig den Menschen und sein Verhalten getrennt zu betrachten und ihm das Gefühl zu geben, dass er als Mensch geschätzt. Auch wenn wir ein Verhalten nicht gut finden, ändert sich an der Beziehung nichts.

7. Nachbearbeitung
Erst jetzt ist es möglich, überhaupt eine Nachbesprechung in Betracht zu ziehen. Meistens ist dies erst nach vielen Stunden, oder sogar Tagen möglich. Es muss ganz sicher sein, dass der Mensch wieder zugänglich für Informationen ist und zusammen Lösungswege gefunden werden können, wie die Situation in Zukunft vermieden werden kann. Dies hängt natürlich stark vom Alter und den kognitiven Fähigkeiten ab. Wenn eine Besprechung mit dem Menschen nicht oder nur sehr begrenzt möglich ist, macht es aber auf jeden Fall Sinn, das Ganze mit Familie, Fachleuten, Einrichtung oder anderen Bezugspersonen zu besprechen. Wichtig ist, dass dem Menschen zu keinem Zeitpunkt Vorwürfe gemacht werden. Es sollte unbedingt beachtet werden, dass eine solche Eskalation ein absoluter Ausnahmezustand ist, in dem der Mensch sich hilflos fühlt. 

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